Credo zum Kooperativen Lernen

Dietlinde H. Vanier in memoriam Norm Green

Das pädagogische Credo des John Dewey (1859 - 1952) wird weltweit als einflussreicher pädagogischer Text angesehen. Zudem bildet es - mit anderem - die Basis für die Philosophie des Kooperativen Lernens, wie es von Norm Green (1946-2009) gelehrt und gelebt worden ist. Das nachfolgende eigene Credo verdichtet ein Jahrzehnt an Beschäftigung, Erfahrungen, Gesprächen und Nachdenken über Kooperatives Lernen.

1. Wir glauben, dass gelingende Gemeinschaften den Grund bilden, auf dem menschen- und mitweltreundliche Gesellschaften gedeihen. Solche Gemeinschaften zu gestalten ist die entscheidende private wie professionelle Bildungs- und Erziehungsaufgabe und bedarf unserer Aufmerksamkeit, unseres andauernden Bemühens um sie und unseres Wissens über sie. Sie entstehen und erhalten sich nicht von selbst. Ich glaube, dass gelingende Gemeinschaften eigenständige, respektvolle, selbstsichere und verantwortlich handelnde Kinder und Erwachsene hervorbringen. Dies ist die eigentliche Aufgabe von Bildungsinstitutionen und von ihnen in sinnvoller Art und Weise mit Lernprozessen, Wissenserwerb und Kompetenzaufbau zu verbinden.

2. Wir glauben, dass individuelles und kooperatives Lernen sich wechselseitig bedingen, balancieren und bereichern. Menschen sind Lernwesen, die belastbare Lernbeziehungen benötigen, um sich emotional, kognitiv, sozial und spirituell entfalten zu können. Ich glaube, dass kooperatives Lernen viele Formen annehmen und durch verschiedene Methoden gestaltet werden kann, dass es aber grundlegend auf einer akzeptierten gegenseitigen (positiven) Abhängigkeit von einander beruht, auf dem Aufbauen vertrauensvoller Beziehungen, dem Annehmen von Verantwortung für einander und dem Verzicht auf Machtmissbrauch. Es ist der Idee einer Unterstützungskultur verpflichtet. Die verwendeten Arbeits-, Kommunikations- und Lernmethoden stellen Wege dorthin dar.

3. Wir glauben, dass kooperatives Arbeiten und Lernen Kindern wie Erwachsenen individuelle Vorteile bringt. Kooperationskulturen ermutigen dazu und unterstützen darin, etwas auszuprobieren, Misslingen auszuhalten, sich Unsicherheit auszusetzen, sich etwas zuzutrauen, sich einzubringen und einzusetzen, sich anzustrengen, eigene Leistungen ebenso wertzuschätzen wie die anderer, Anerkennung und Respekt zu geben und zu nehmen. Sie sind per se inklusiv. Ich glaube, dass Lernen, Motivation und Leistungen in Bildungsinstitutionen, die die gesellschaftliche Beschleunigungs- und Konkurrenzdoktrin überwunden haben, umfassender und nachhaltiger gelingen. Ich glaube, dass Bildungsinstitutionen, die kooperatives Lernen und Arbeiten als Leitvorstellung ansehen, sehr viel mehr Heranwachsenden in ihrem eigenen Sinne erfolgreiche Bildungsprozesse ermöglichen als konkurrenzorientierte.

4. Wir glauben, dass die Zeit und das Bemühen, die gelingende Gemeinschaften und Kooperationskulturen erfordern, gut genutzt sind. Wissenserwerb ist auch in Bildungsinstitutionen Mittel zum Zweck, nicht andersherum. Je kleiner die Kinder sind, desto größer ist dabei jeweils die Bildungsverantwortung. Ich glaube, dass inklusive Bildungssysteme dieser Bildungsverantwortung am ehesten gerecht werden, da sie die größtmögliche Verschiedenheit von Kindern und Jugendlichen als Grundlage für die Gestaltung des Lerngeschehens ansehen. Ohne dass diese dabei von- und miteinander, also kooperativ, lernen und ohne dass die beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen es ihnen gleich tun, ist eine individuelle Förderung aller Kinder kaum leistbar. Dieses vermeintliche Paradoxon kennzeichnet komplexe Lernkulturen.

5. Wir glauben, dass Idee, Konzept und Methodik des Kooperativen Lernens keiner Ideologie verpflichtet sind, sondern dem menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Anstrengung und Erfolg, nach sinnhaftem Lernen und Tun, nach Kommunikation, Anregung und Verlässlichkeit. Ich glaube, dass solcherart Kooperatives Lernen andere pädagogische und didaktische Konzepte ergänzt und erweitert ohne mit ihnen in Konkurrenz zu treten. Kooperationskulturen bedürfen keiner besonderen Bedingungen außer unserem beständigen Bemühen, sie können überall entstehen, wo Menschen das Risiko eingehen,
zu vertrauen und vertrauenswürdig zu werden, Unterschiedlichkeit zu akzeptieren und zu nutzen und gemeinsam über sich selbst hinauszuwachsen.